Das Experiment von Rakúsy

November 24th, 2024  |  Published in Jugend & Bildung, Politik, Rassismus & Menschenrechte, Romani, dROMa (Magazin)

VERBAUT: Benachteiligungen prägen den Bildungsweg der Roma-Kinder. Die ost­slo­wa­ki­sche Ge­mein­de Rakúsy bekommt nun die erste Romani-Schule des Lan­des. Good News oder ein weiterer Irrweg? (Symbolbild: SME)Die Slowakei bekommt ihre erste Romani-Schule

Im Juni wurden im Bildungsministerium in Bra­tis­lava die Wei­chen ge­stellt: In der ost­slo­wa­ki­schen Ge­mein­de Rakúsy wird es bald die erste Schule des Lan­des ge­ben, in der die Kinder – neben Slo­wa­kisch – auch in ihrer Mut­ter­spra­che Romani un­ter­rich­tet werden.

Für die Umsetzung unterzeichnete das Ministerium eine Koope­ra­tions­ver­ein­barung mit der Gemeinde, der Univer­sität Prešov und dem „Verband der Schulen, die die Roma-Sprache unter­richten“. Die Vor­berei­tun­gen sollen nun etwa ein Jahr dauern. „Ich halte es für außer­ordent­lich wichtig, einen Raum für die Bildung von Kindern aus ethni­schen Minder­heiten in ihrer Mutter­sprache zu schaffen, ein­schließ­lich der Roma-Kinder“, erklärt Bildungs­minister Tomáš Drucker. „Deshalb haben wir be­schlos­sen, die Ein­richtung einer Pilot­schule für Roma-Kin­der im Dorf Rakúsy zu unter­stützen. Wir wollen Pilot­maß­nahmen in diesem Bereich aus­pro­bieren, die darauf abzielen, mutter­sprach­li­che Bildung auch für Ro­ma-Kinder aus­zu­weiten und zu ver­bessern.“ Für Rakúsy habe man daher den Status einer „Na­tio­na­li­tä­ten-Schu­le“ be­antragt.

Derzeit existieren in der Slowakei nur eine Handvoll Schulen, an denen Romani – im Umfang von drei Wochen­stunden – als Schulfach an­geboten wird (und das, obwohl laut dem „Atlas der Roma-Ge­mein­schaf­ten“ in der Slowakei 450.000 Roma leben, von denen 60 Pro­zent zu Hause Romani sprechen). Sieben Schulen sind es, alle­samt Privat­schulen, fast alle im Osten des Landes. So ist Romani an vier Grund­schulen (in Kružlová, Stropkov, Kremnica und Košice), am Ze­fy­rin-Ji­mé­nez-Malla-Gym­na­si­um (in Krem­nica) und an zwei berufs­bilden­den Schulen (in Košice und Kežmarok) als Unterrichts­fach ver­ankert – nicht jedoch als Unter­richts­sprache wie künftig in Rakúsy. Die Schule ist tat­säch­lich ein Novum: die erste Schule der Slowakei, in der Romani auch regulär zur Ver­mittlung an­derer Lehr­inhalte ver­wendet wird.

Zweigeteiltes Dorf

Rakúsy ist eine kleine Gemeinde am Fuße der Tatra, die Bezirks­haupt­stadt liegt nur einige Kilo­meter entfernt. 3.300 Ein­wohner hat das Dorf, 70 Prozent ent­fallen auf die Volks­gruppe der Roma, die größten­teils in einer ab­geson­derten Siedlung etwas außer­halb des Ortes leben. Die Roma-Sied­lung von Rakúsy ist eine der größten der Slowakei. Nur in zwei slowa­kischen Kom­munen leben laut Zensus 2021 zahlen­mäßig noch mehr Roma, pro­zentual weist Rakúsy über­haupt den zweit­größten Roma-An­teil des Landes auf.

Und die Zahl der Kinder wächst von Jahr zu Jahr, längst platzt die Dorfschule aus allen Nähten. 2017 sah sich die Schul­leitung ge­zwungen, zum Schicht­betrieb über­zu­gehen und einige Klassen täglich mit vier Bussen zu Ersatz­räumen in den Nachbar­ort zu bringen. Die Haupt­stelle der Schule blieb weiter­hin im Dorf, der Großteil der Kinder ist aber in einer Außen­stelle direkt in der Roma-Sied­lung unter­gebracht.

Muttersprache

870 Schülerinnen und Schüler besuchen momentan die Schule von Rakúsy – und sie alle kommen aus Roma-Fa­mi­lien. Kaum eines der Kinder bringt am ersten Schultag die für den slowa­kischen Unterricht nötigen Sprach­kennt­nisse mit. Sie kommen aus einem häus­lichen Umfeld, in dem sie aus­schließ­lich mit Romani auf­wachsen, betont Ge­meinde­ko­ordi­nator Marek Mirga gegen­über dem slowaki­schen Fernsehen RTVS: „Das ist unsere Mutter­sprache, und die meisten Eltern reden mit den Kindern auf Romani.“

„Da die Kinder kein Slowakisch sprechen, können sie nicht zeigen, was sie schon alles wissen. Das sieht man beson­ders bei der Ein­schulung“, er­klärt Lucia Brutovská – sie ist die Direk­torin der Schule in Rakúsy. „Da weiß ein Kind zwar etwas, aber es versteht nicht richtig, was von ihm ver­langt wird. Und wenn wir es ihm nicht auf Romani er­klären können, wird es un­nötiger­weise in Sonder­klassen gesteckt oder als unfähig ab­ge­stempelt.“ Um den Kindern zu helfen, hat Lucia Michlíková, Lehrerin an der Grund­schule in Rakúsy, be­gonnen, deren Mutter­sprache zu lernen, und gewann sofort den Respekt der Eltern und das Ver­trauen der Kinder. „Als ich in der ersten Klasse unter­richtete, verstand von 16 Kindern anfangs nur eines Slowa­kisch. Also meldete ich mich für den Roma­ni-Kurs an“, sagt sie gegen­über RTVS.

Getrennte Schulen

Schulische Segregation, also die ethnische Absonderung von Roma, gehört in vielen Gemein­den der Slowakei zum Alltag. Zwei von drei Roma zwi­schen 6 und 15 Jahren be­suchen Schulen, in denen Kinder aus der Volks­gruppe über­wiegen, häufig sind es sogar reine Roma-Klassen. „Das macht die Slowakei zum EU-Land mit dem höchsten Anteil von Roma-Se­gre­gation im Bildungs­wesen“, kon­sta­tiert Amnesty Inter­national.

Das Vorhaben in Rakúsy sei auch ein Beitrag, um das Problem der Segregation zu be­kämpfen, betont das Bildungs­minis­terium in einer Aus­sendung. Doch Bildungs­experten wie die Sozio­login Tina Gažovičová wider­sprechen. Es sei im Gegenteil zu be­fürchten, dass Romani-Schulen die ethnische Auf­teilung weiter ein­zemen­tieren würden. Auch Amnesty Inter­national warnt vor einer „Legiti­mierung der Segre­gation“. Man dürfe sich nicht mit separaten Schulen für Roma und Slowaken ab­finden, und dies gelte auch für die Schule in Rakúsy. Wegen ihrer „Un­fähig­keit oder man­gelnder Bereitschaft zur Nicht­trennung“ sei schon einmal ein Förder­antrag zum Ausbau der Schule ab­gelehnt worden. Die Politik dürfe sich mit der Ein­richtung von Roma­ni-Schulen nicht aus der Ver­ant­wortung stehlen. „Jahr­zehnte­lang hat das Ministe­rium die an­spruchs­vollere, aber letztlich zentrale Aufgabe einer um­fassenden Reform des dis­krimi­nieren­den Bildungs­systems ver­mieden.“

Konfrontationskurs

Die fortdauernde Benachteiligung der Roma-Kinder brachte die Slowakei zuneh­mend auf Kon­fronta­tions­kurs mit der EU. Schon 2015 hatte die EU-Kom­mission ein Vertrags­ver­letzungs­ver­fahren gegen die Slowakei ein­ge­leitet, da die schulische Trennung gegen das in der Gleich­be­hand­lungs-Richt­li­nie ver­ankerte Dis­krimi­nie­rungs­verbot im Bildungs­wesen verstößt. Seither unter­nahm die Regierung in Bratlislava zwar einige Anläufe, um Re­formen auf den Weg zu bringen, doch es man­gelt an der Um­setzung.

Erst vor einem Jahr ist ein Gesetzesvorhaben geplatzt, das die Segrega­tion endlich wirk­sam be­kämpft hätte. Im April 2023 be­schloss die Europä­ische Kommis­sion daher, die Slowakei vor dem Gerichts­hof der Euro­päischen Union zu verklagen. Und auch eine Reso­lution des EU-Par­la­ments rügte im Herbst 2023 den fehlenden politi­schen Willen, die Aus­gren­zung der Roma-Kinder zu beenden.

Halbherzig

Dem gegenüber verweist die Slowakei auf eine Palette von Projekten und Pro­gram­men für Roma-Kinder. Ein Schwer­punkt liegt auf früh­kindlicher Förderung und Vorschul­erziehung. Die natio­nale „Roma-Stra­tegie 2023“ sieht als Zielsetzung u. a. die Er­mögli­chung von mutter­sprach­li­chem Unterricht auf allen Schul­stufen vor, ebenso die Integra­tion von Lehr­inhalten über Roma-Kultur und -Geschichte. Inter­kulturelle Trainings für Schul­leitungen und Lehr­personal sollen die Schulen besser zu einem in­klusiven Umgang mit Roma-Kindern be­fähigen und neue Lehrpläne und Lehr­mate­ria­lien für mehr Sen­sibilität sorgen.

Insbesondere will man die Anzahl der Lehrer mit Romani-Kennt­nis­sen er­höhen. Seit Kurzem besteht an der Univer­sität in Prešov hierfür sogar ein spe­zielles Studien­programm. Unter dem Titel „Roma-Sprache, -Lite­ratur und -Wirk­lich­keit“ bereitet der päda­gogische Studien­gang Lehr­amts­studie­rende für das Unter­richts­fach Romani vor. Somit ist die slowaki­sche Uni­versität europa­weit die dritte Hochschule, die Roma­ni-Sprach­lehrer ausbildet. Die ersten Absol­venten stehen schon ab dem nächsten Schul­jahr 2024/25 im Einsatz.

Die Regierung hat also durchaus wertvolle Reformen in Gang gesetzt – doch es fehlt noch immer an Ent­schlossen­heit, das Problem der Segre­gation tat­sächlich an­zu­packen. Statt­dessen scheint man nun mit der Schule von Rakúsy einen anderen Weg ein­zu­schlagen. Einen, der das Ziel der De­segre­ga­tion ganz auf­gegeben hat.

Von Roman Urbaner

Nationalitäten-Schulen

Für die 13 anerkannten Minderheiten der Slowakei besteht die Mög­lich­keit eigener „Natio­na­li­tä­ten-Schu­len“ mit mut­ter­sprach­li­chem Unter­richt. 29.840 Kinder be­suchten im Schuljahr 2022/23 eine sol­che Grund­schule.

Sprache / Anzahl der Schulen:

  • Ungarisch: 207
  • Ungarisch (zweisprachig): 27
  • Deutsch: 2
  • Ruthenisch: 2
  • Bulgarisch: 1
  • Ukrainisch: 1
  • Russisch (zweisprachig): 1
  • Romani: 0

Aus: dROMa 74, Sommer/Linaj 2024
(→Themenheft / themakeri heftlina: „Nachbarn / Nochbertscha“)

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