Bayern: Polizei erforschte „Landfahrerstelle“

Dezember 15th, 2021  |  Published in Einrichtungen, Geschichte & Gedenken, Rassismus & Menschenrechte, Wissenschaft

Präsentation der Forschungsarbeit von Eveline Diener in München (Foto: Bayerisches Landeskriminalamt)Zentralrat begrüßt Beginn der Auf­ar­bei­tung der Nach­kriegs­ge­schich­te des Bayeri­schen Lan­des­kri­mi­nal­amts durch die Be­hörde

Der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, hat auf der Presse­kon­ferenz des Bayeri­schen Landes­kriminal­amts in München die histo­rische Arbeit von Kriminal­haupt­kom­mis­sarin Eveline Diener kritisch be­leuch­tet, die dort der Öffent­lich­keit vor­gestellt wurde. Die Arbeit be­schäftigt sich mit der Geschichte und perso­nellen Kon­ti­nui­tä­ten der beim BLKA an­ge­siedel­ten „Landfahrerstelle“ bis zu deren Auf­lösung im Jahr 1965. Rose for­dert weiter­füh­rende Unter­suchun­gen der Kontinuität auch über 1965 hinaus durch un­ab­hän­gi­ge Historiker.

Romani Rose lobte auf der Pressekonferenz, an der neben der Autorin auch der Prä­si­dent des Bayeri­schen LKA Harald Pickert teil­nahm, die Forschungs­arbeit von Eveline Diener und das BLKA dafür, dass es sich nun diesem Teil seiner Ge­schich­te stellt:

Eveline Diener hat in ihrer Arbeit eine Vielzahl an Quellen, die der For­schung bisher in weiten Teilen un­zu­gäng­lich waren, er­schlossen, durch­gearbeitet und analy­siert. Sie kann damit den bisher äu­ßerst lücken­haften Kenntnis­stand zur frühen Bayeri­schen ‚Landfahrer­stelle‘ enorm er­weitern und em­pirisch unter­füttern. Bei­spiels­weise war 1963 mit 11.092 Fa­milien­akten mit ca. 55.000 er­fass­ten Per­so­nen bei der ‚Landfahrerstelle‘ ein enor­mer Daten­bestand an­ge­legt. Das BLKA hat mit dieser nun vor­ge­legten For­schungs­arbeit die Forde­rung des Zentralrats an die Polizei­behörden der Länder um­gesetzt und be­gonnen, ihre Geschichte in den Grün­dungs­jahren der Bundes­republik Deutschland auf­zu­arbeiten. Da mit der Auf­lösung der „Land­fahrer­stelle“ im Jahr 1965 die rassisti­sche Sonder­erfassung von Sinti und Roma auch nicht im BLKA ge­endet hat, kann die heute vor­gestellte Arbeit nur ein Anfang sein. Aus un­serer Sicht muss es nun auch eine weiter­führende Unter­suchung der Kon­tinui­tät nach 1965 durch un­ab­hän­gige Historiker folgen.

Romani Rose forderte vor dem Hintergrund dieser Geschichte, dass die führende Rolle der Kriminal­polizei beim NS-Völkermord sowie die per­sonel­len und ideolo­gi­schen Kon­tinui­täten nach 1945 in­tegraler Be­stand­teil der Fort- und Aus­bildung von Polizei­bediens­te­ten werden sollten, und empfahl dem BLKA hierzu aus­drücklich die Ko­operation mit dem Bayerischen Landes­verband. Eine solche Auf­arbeitung diene nicht nur der bes­seren Wissens­ver­mittlung für die jungen Aus­zu­bildenden, son­dern ist auch ge­eignet, dis­krimi­nie­renden und klischee­geprägten Ein­stellun­gen ent­gegen­zu­wirken, wo­durch das Be­wusstsein der Be­amtin­nen und Beamten für Demo­kratie und Rechts­staat und eine vorurteils­freie Be­gegnung mit den An­gehöri­gen von Minderheiten ge­fördert wird. Aus diesem Grund sollte nicht nur die Verfolgungs­geschichte der Sinti und Roma Teil der Aus­bildungs­inhalte sein, sondern auch die in den ver­gangenen Jahr­zehn­ten er­zielten Erfolge der Bürger­rechts­be­wegung, wie bei­spiels­weise die Anerkennung der deutschen Sinti und Roma als eine der vier nationa­len Minderheiten neben Sorben, Dänen und Friesen.

Historisch nahmen Bayern und München seit dem Kaiserreich eine Vorreiter­rolle in der Ver­folgung der Sinti und Roma ein: Bereits im Jahr 1899 wurde bei der Polizei­direktion München ein eigener Nachrichten­dienst für „Zigeuner“ ein­ge­richtet. Mit modernen krimino­lo­gi­schen Methoden wie er­kennungs­dienst­li­chen Fotografien und einer Fingerabdruck­samm­lung sollte die Grund­lage für eine lückenlose Überwachung und Erfassung aller „Zigeuner“ geschaffen werden. Die National­sozialisten konn­ten später auf diese ge­sam­mel­ten polizeili­chen Daten zu­rück­greifen und so die Ausgrenzung, Ver­fol­gung, Deportation und schließ­lich Er­mordung der Sinti und Roma im Holocaust ent­schie­den voran­trei­ben. Bis zu ihrer Verlegung nach Berlin im Okto­ber 1938 hatte die Münchner „Zigeunerpolizeistelle“ Akten zu mehr als 33.000 Men­schen an­ge­legt, die als „Zigeuner, Mischlinge oder nach Zi­geu­ner­art Umherziehende“ er­fasst wor­den waren.

Die „Landfahrerzentrale“ des Bayerischen LKA, die noch bis 1951 den von den National­sozialisten ge­nutzten Namen „Zigeuner­polizeistelle“ trug, hatte laut LKA-An­weisung die Auf­gabe, alle Finger­abdrücke, Fotos, und „Zigeunernamen“ zentral zu sammeln und griff dabei auch auf das von den National­sozialisten ge­sammelte Material zu­rück, wie Ro­mani Rose auf der Presse­konferenz an­merkte: Die Scham­losig­keit der Beamten ging so weit, dass sie die in den Kon­zentra­tions­lagern ein­tätowier­ten Num­mern er­fassten.“

Auch nach der offiziellen Auflösung der „Landfahrerzentrale“ 1965 wurde die Sonder­erfas­sung der Sinti und Roma weiter fort­ge­setzt. So wurden bei­spiels­weise weiter­hin Namens­listen mit Kürzeln wie ZN für „Zigeuner­name“ oder MEM für „Mobile ethnische Minderheit“ ver­wen­det, um Min­der­heiten­ange­hö­rige nur auf­grund ihrer Ab­stammung kriminal­präventiv zu er­fassen. Noch 2019 kam es zu politi­schen und juristi­schen Aus­einander­setzun­gen mit der Bayer­ischen Polizei wegen der Sonder­erfassung, so hatte die Bayeri­sche Datenschutz­beauftragte die Ver­bände der Bayerischen Polizei an­lässlich meh­rerer bei einer Stichprobe auf­ge­fallener Ver­wendun­gen von Minderheits­zu­ge­hörig­kei­ten „an einen sensib­len Umgang mit den Ein­tragungen in polizei­lichen personen­bezo­genen Samm­lungen“ er­in­nern müssen.

Gegen diese Praxis richtete sich auch der Hungerstreik in der Gedenk­stätte Dachau 1980, an dem auch mehvrere Über­le­bende des Holocaust teil­nahmen. Eine For­derung der Strei­kenden war, die Akten des Reichs­sicher­heits­haupt­amtes heraus­zu­ge­ben und diese auch für die Ent­schädi­gungs­arbeit zur Ver­fügung zu stellen. Die Bürger­rechts­bewe­gung der Sinti und Roma for­derte darüber hinaus die An­erken­nung des Völkermords und die Ein­stel­lung der fort­ge­setzten Kriminali­sierung durch die Polizei­be­hör­den, die gerade in Bayern be­son­ders stark aus­ge­prägt war.

(Text: Zentralrat Deutscher Sinti und Roma)

Eveline Dieners Dissertation trägt den Titel: „Das Bayerische Landeskriminalamt und seine ‚Zigeuner­polizei­stelle‘, dann ‚Landfahrer­zentrale‘ und schließ­lich ‚Nachrichten­sammel- und Auskunfts­stelle über Landfahrer (1946 bis 1965): Kon­tinuitäten und Dis­kon­tinui­täten der bayeri­schen ‚Zigeuner‘- bzw. ‚Land­fahrer­ermittlung‘ im 20. Jahr­hun­dert.“ Ein­ge­reicht wurde sie bei Prof. Dr. Wolfgang Kruse im Pro­mo­tions­fach Geschichte der Euro­päi­schen Moderne an der Fern-Uni­ver­sität Hagen. Die Arbeit er­scheint im Verlag der Deut­schen Gesell­schaft für Polizei­geschichte. [→Presse­mit­tei­lung des Bayeri­schen LKA]

Comments are closed.