Marcel Courthiade (1953–2021)
März 6th, 2021 | Published in Ehrungen & Nachrufe, Romani
Auf Social Media erreicht uns die traurige Nachricht vom Tod des bedeutenden Romani-Sprachwissenschaftlers und Roma-Aktivisten Marcel Courthiade. Der 1953 geborene und lange in Frankreich lebende Forscher und Förderer der Sprache der Roma, der sich seit Jahrzehnten für die Standardisierung des Romani einsetzte, verstarb am 4. März.
Vor seiner akademischen Karriere als Romani-Linguist arbeitete er mehrere Jahre als politischer Analyst und Übersetzer für die französische Botschaft in Tirana. Anschließend lehrte er an der École pratique des hautes études (EPHE) in Paris. Seit 1997 wirkte Couthiade als ao. Professor am Institut national des langues et civilisations orientales (INALCO) an der an der Université Sorbonne Paris Cité. An diesem Institut, an der er selbst seinen PhD erworben hatte, baute er nun den Studiengang „Romani-Sprache und -Kultur“ auf und machte die Sorbonne so zu einer der ganz wenigen Universitäten weltweit, an der die Sprache studiert werden kann. Vor einigen Jahren konzipierte er in diesem Zusammenhang eine internetbasierte interaktive Studienplattform zum Erlernen von Romani: http://www.red-rrom.com/
Marcel Courthiade war insbesondere eine treibende Kraft hinter den Bemühungen, einen international anerkannten Romani-Standard zu etablieren. So präsentierte er 1990 auf dem IV. Kongress der IRU im polnischen Serock ein Modell für die orthografische Vereinheitlichung der in viele Dialekte zerfallenden Sprache. Dieses standardisierte Romani-Alphabet (in seiner Schreibung: Rromani), hat sich jedoch nicht als allgemein anerkannte Norm durchsetzen können und ist heute vor allem in Frankreich, Rumänien und im Kosovo im Gebrauch.
In seinem bekannten programmatischen Aufsatz „Wer hat Angst vor der Sprache der Rroma?“ von 2005 (PDF) skizzierte Marcel Courthiade die Zukunftsperspektiven der bedrängten Sprache, die er vor allem im Engagement und der Herausbildung einer selbstbewussten Bildungselite der Roma erblickte:
Des Lesens und Schreibens unkundige und marginalisierte Rroma haben bisher die Sprache der Rroma am Leben erhalten, aber werden inzwischen zunehmend stärker von den Mehrheitssprachen vereinnahmt; eine Ausnahme sind die Erben einer lebendigen mündlichen Kultur, die sich ihre Liebe für und den Stolz auf ihre Muttersprache bewahrt haben. Entgegen der landläufigen Meinung ist es ganz und gar nicht naturgegeben, dass man die Sprache der Vorfahren pflegt: Es bedarf eines unerschütterlichen Bewusstseins und Motivation, um die zur Akkulturation führende Tatenlosigkeit zu überwinden. Im heutigen Europa haben Minderheitssprachen nur eine Überlebenschance dank des freiwilligen Einsatzes der Eliten. Wenn Rroma die verfügbaren Lehrhilfen richtig nutzen und ihre europäische Elite entwickeln können, gäbe es die Hoffnung, dass diese Elite als Vorbild […] für andere Rroma fungiert und sie dazu ermutigt, die gegenwärtig von ihnen vernachlässigte Sprache auf mittlere Sicht wieder zu aktivieren.
Schon früh engagierte er sich auch in der Arbeit von NGOs, die sich für die Bildungssituation für Roma in Albanien einsetzten. Er koordinierte mehrere Bildungs- und Kulturprojekte. Über mehrere Jahre veranstaltete er die International Rromani Summer School, ebenso war er an der Organisation von Kongressen des Roma-Weltverbandes International Romani Union (IRU) maßgeblich beteiligt.
Courthiade, der nach einem begonnenen Medizinstudium in Clermont-Ferrand zunächst Slawistik studiert hatte, bevor er den Fokus seiner wissenschaftlichen Arbeit auf seine Muttersprache Romani verlegte, sprach auch fließend Französisch und Albanisch sowie Bulgarisch, Deutsch, Englisch, Griechisch, Okzitanisch, Mazedonisch, Polnisch, Rumänisch, Slowakisch und Serbisch.
Marcel Courthiade verstarb am 4. März 2021, noch unbestätigten Meldungen zufolge an Covid-19, in einem Spital in Tirana.
(dROMa-Red.)