RAN: Hetze nach Coronafällen in Göttingen

Juni 6th, 2020  |  Published in Rassismus & Menschenrechte  |  1 Comment

Iduna-Zentrum in Göttingen (Foto: CC0 1.0 , Foto F. Welter-Schultes, Wikimedia)Deutschland: Hetze wegen Corona-Ansteckun­gen in Göt­tin­gen brei­tet sich aus

Seit Tagen verfolgen wir mit zunehmender Besorgnis die Bericht­erstattung über Göt­tinger Coro­na-In­fektionen. Per­manent wer­den stig­ma­ti­sie­ren­de Begriffe ver­wendet und die betrof­fene Personen als leicht­sinnige und ver­antwor­tungs­lose Men­schen dar­gestellt. Ort des Ge­schehens ist ein Hochhaus mit 700 Be­woh­ner/innen, das in Göttingen als „sozialer Brennpunkt“ gilt. Dort leben viel­fältige Men­schen: Migrant/in­nen, Ge­flüchtete, aber auch Deutsche. Den meis­ten gemein ist ihre soziale De­klassierung.

Ein Bewohner des Hauses, der nicht zu den in den Medien be­schuldig­ten „Großfamilien“ ge­hörte, hatte sich mit Corona infiziert und be­fand sich unter Quarantäne. Gegen diese ver­stieß er meh­rere Male. Ande­re Bewoh­ner/innen des Hauses, unter ande­rem aus den Familien, die jetzt kri­mina­lisiert werden, wiesen die Be­hörden mehr­fach darauf hin, dass sich der Mann nicht an die Quaran­täne hielt. Die Behörden re­agier­ten nicht.

Ein älterer Mann erkrankte schwer, und seine Familie brachte ihn am 25. Mai ins Krankenhaus. Dort wurde er positiv auf Corona ge­testet. Seine Familie machte sich natür­lich auch Sorgen um ihre weite­ren An­gehörigen und wollte sich eben­falls testen lassen. Da keine/r Symptome hatte, wei­ger­te sich das Klinikum, sie zu testen, bzw. sie hät­ten finanziell selbst für die Tests auf­kommen müs­sen. In der Presse war da­gegen viel­fach davon die Rede, dass die Be­wohner/innen der Auf­forderung, sich testen zu las­sen, nicht nach­ge­kom­men seien.

In der Presse wird behauptet, die Infektionen hätten pri­mär bei Familien­feiern an­läss­lich des Zuckerfestes am 24. Mai statt­gefunden, also bevor der Mann die Corona-Di­agnose hatte. Die Fami­lien hatten eine Ge­nehmi­gung des Ordnungs­amtes für die Zu­sammen­kunft in der Moschee. Nur dort hat eine Zusammen­kunft meh­rerer Per­so­nen unter Ein­haltung der Abstands- und Hygiene­regeln statt­ge­funden. Weitere Feier­lich­keiten gab es nicht.

Die Bewohner/innen des Hauses werden nun beschuldigt, ver­ant­wortungs­los zu sein. Die Presse hat un­hinter­fragt die Stellung­nahmen und Presse­mit­teilungen der Stadt über­nommen und immer wie­der wieder­holt. Die Stadt hat nicht auf die Beschwe­rden der Be­woh­ner/innen, dass ein Mann gegen die Quaran­täne verstoßen habe, reagiert und schiebt nun ihr eige­nes Versagen auf die Bewoh­ner/innen. So wäre es auch möglich ge­wesen, mit den Men­schen zusam­men nach Lösungen zu suchen, und nicht ein­seitig über die Men­schen zu sprechen. Es ist schade, dass die Stadt Göttingen nicht ein­mal ein Familien­mit­glied zu den täg­lichen Presse­kon­ferenzen ein­geladen hat, um die Sicht der Bewoh­ner/innen dar­zustellen.

Ein Bewohner hatte einem Filmteam des ZDF ausführlich die ganze Geschichte er­zählt (bei 3:30min). Die Redaktion schnitt die Geschichte je­doch raus und behielt ledig­lich die Informa­tion drin, dass der Mann, der gegen die Quarantäne ver­stoßen hat, immer den Fahrstuhl genutzt hat. Als dann ein Film­team des Springer-Me­diums Welt auf­tauchte, wurde dieses von Bewoh­ner/innen des Hochhauses mit Gemüse be­worfen. Dieser Fakt wurde eben­falls medial drastisch auf­be­reitet, ohne die Hinter­gründe zu be­leuchten.

Als Folge der Infektionen wurden die Göttinger Schulen und Sport­vereine ge­schlossen. Die Schuld hier­für wird den „ver­antwor­tungs­losen“ Familien zu­ge­schoben.

Die betroffenen Familien haben die Angelegenheit nun in die eigenen Hände ge­nommen: Sie haben ihre Wohn­situation so organi­siert, dass die Men­schen mit positivem Corona-Er­gebnis in einer Wohnung leben und die Gesunden in einer an­deren. Die Gesunden ver­sorgen ihre unter Quaran­täne stehen­den An­gehörigen mit den Dingen des täg­lichen Bedarfs. In der aktuel­len Situation müs­sen diese Men­schen sich nun nicht mehr nur Sorgen um ihre kranken An­gehörigen machen, sondern werden wieder einmal in unserer Stadt stig­ma­tisiert.

Die Hetzte gegen sie breitet sich aus.

Wir sind tief beunruhigt über die Kommunikation der Stadt zum Geschehen und zur medialen „Aufbereitung“. Sie haben in­zwischen zu mehre­ren Hetz-Beiträgen in sozialen Medien ge­führt und in einem Video des NDR werden die Menschen von einer Frau als „kriminell und asozial“ be­zeich­net. Bei un­reflektier­ten Leser/in­nen und Zu­schauer/in­nen werden so leicht Vorurteile und letzt­lich Rassismus ge­schürt.

Die Corona-Krise betrifft uns alle, sie schränkt uns alle ein und wir kön­nen alle krank werden. Beson­ders hart treffen das Virus und die Maß­nahmen aber jene, die auch schon vorher nicht auf der Sonnen­seite des Lebens standen. Statt sich ver­ant­wortungs­voll und solidarisch zu zeigen, wird Hetze geschürt, in Massen am Landwehr­kanal gebadet und werden große Parties ge­feiert.

(Text: Roma Antidiscrimination Network/RAN, 4.6.2020)

Responses

  1. dROMa-Blog | Weblog zu Roma-Themen | Die Legende von den „Großfamilien“ says:

    Juni 17th, 2020 at 10:38 (#)

    [...] auch: RAN: Hetze nach Coronafällen in Göttingen, [...]