Roma-Urteil: Orbán ignoriert Rechtsstaat

Februar 19th, 2020  |  Published in Jugend & Bildung, Politik, Rassismus & Menschenrechte, Recht & Gericht

Viktor Orbán 2018 beim Treffen der Europäischen Volkspartei (EPP) in Brüssel (Foto: EPP/CC BY 2.0)Zentralrat: Aussagen Orbáns zum Debre­ce­ner Segre­ga­tions­ur­teil ne­gie­ren den Rechts­staat und sind eine Be­dro­hung für die Demo­kra­tie in Ungarn

Anlässlich der alljährlichen Pressekonferenz von Minister­prä­si­dent Viktor Orbán am 9. Ja­nuar 2020 stellte Orbán offen ein Urteil des Debre­cener Beru­fungs­gerichts in Frage, welches den ungari­schen Staat bereits im Sep­tember 2019 zu Schaden­ersatz­zahlun­gen für die rechts­widrige segre­gierte Beschulung von Roma-Kin­dern im ost­ungari­schen Ort Gyöngyöspata ver­urteilt hatte. Gegen diese Ent­scheidung des Gerichts ist die Stadt Gyöngyös­pata vor das Oberste Bundes­gericht in Ungarn ge­zogen. Orbán will als Minis­ter­präsident jetzt direkt Einfluss auf die Ent­scheidung des Obersten Gerichts­hofes nehmen, indem er in der Frage eine „Natio­na­le Konsultation“ an­kündigte, da das Urteil „das Rechts­empfinden der Bürger“ ver­letzen würde. Dabei sug­ge­rierte er in zynischer Ver­kehrung der Tat­sachen, dass nicht die Roma-Kinder die Ge­schädigten seien, son­dern viel­mehr die Bürger von Gyönygös­pata, die nicht ver­stehen würden, „dass eine ethnische Minder­heit (…) eine statt­liche Summe be­kommt, ohne irgend­wie dafür ge­arbeitet zu haben“. Die „Nationa­len Konsultationen“ der Regierung be­stehen aus Frage­bögen, die an alle Haushalte in Ungarn ver­schickt werden und suggestiv for­mu­lierte Fragen ent­halten, die auf die Bestä­tigung der Regierungs­politik ab­zielen.

„Mit diesen Aussagen schürt Viktor Orbán nicht nur in un­verant­wort­li­cher Weise Ressen­timents gegen die Minder­heit. Der Regie­rungs­chef recht­fertigt gleich­zeitig das staatliche Ver­sagen bei der Durch­setzung einer gleich­berech­tigten Bildungs­teilhabe für Roma in Ungarn“, so der Zentral­rats­vor­sit­zen­de Romani Rose heu­te. Trotz ihres gesetz­lichen Verbots im Jahre 2003 ist die schulische Segre­gation von Roma-Kindern in Ungarn nach wie vor weit ver­breitet. Wenn­gleich diese Praxis von ungari­schen Gerichten mehr­fach als ver­fassungs­widrig verurteilt und auch von der Europäi­schen Kom­mis­sion gerügt wurde, scheitert die gemein­same Beschulung häufig am Wider­stand der lokalen und nationalen staat­lichen Behörden sowie der Lehrer und Eltern aus der Mehr­heits­gesell­schaft. „Indem Orbán sich jetzt offen gegen das Urteil des Debrece­ner Berufungs­gerichts stellt, legiti­miert er diese rechts­widrige Praxis“, so Rose weiter. „Wenn ein Regie­rungs­ober­haupt Anwei­sung gibt, rechts­kräftige Gerichts­entschei­dungen nicht zu voll­strecken und gleich­zeitig an­kündigt, das Urteil der Obersten Gerichts­hofes durch eine Volks­befra­gung er­setzen zu wollen, dann setzt er damit den Rechts­staat außer Kraft. In einem Rechts­staat fällen Gerichte ihre Urteile auf der Basis von Gesetzen und nicht auf der Grund­lage eines von Rassisten auf­ge­putsch­ten Volks­empfindens“, so der Zentral­rats­vor­sitzende.

Der Ministerpräsident nutzte seinen Auftritt darüber hinaus für eine Diskredi­tie­rung der von der Open Society Foundation un­ter­stützten NGOs, die seit meh­reren Jahren Pro­zesse gegen die segre­gierte Beschu­lung von Roma-Kindern in Ungarn führen. Dabei be­diente er sich un­ver­hohlen antisemitischer Res­sen­timents, die an­knüpften an die ak­tuel­le An­ti-Soros-Kam­pagne der Re­gierungs­partei.

Der Ort Gyöngyöspata ist zum Sinnbild schulischer Segregation in Ungarn ge­worden. Bereits am 6. Dezem­ber 2012 urteilte das Land­gericht Eger, dass in Gyöng­yös­pata rechts­widrig die Segregation von Roma-Kindern prak­ti­ziert werde. Roma-Kin­der wurden ge­zielt in gesonder­ten Klassen mit reduzier­tem Curriculum zu­sam­men­gefasst und auch räumlich getrennt von den ande­ren Schülern im Erd­geschoss der Schule unter­gebracht. Die Gemeinde Gyöng­yös­pata und die Grundschule hat­ten seiner­zeit gegen das Urteil Berufung ein­gelegt. Das Debrecener Be­rufungs­gericht hat nun zu­gunsten der ge­schädigten Kinder ent­schie­den und den Schülern bzw. deren Familien für den erlit­te­nen Bildungs­schaden Entschä­digungs­zahlungen in Höhe von ins­gesamt 100 Millio­nen Forint (annähernd 300.000 Euro) zu­ge­sprochen.

Die Praxis der schulischen Segregation ist in Ungarn weit­ver­brei­tet und schließt die Kinder von Roma syste­ma­tisch vom Zugang zu qualifi­zier­ter Bildung aus.

Gyöngyöspata war im März und April 2011 Schauplatz uniformierter Aufmärsche rechts­extremer „Bürger­wehren“, die über Wochen die dort an­sässi­gen Roma terrorisier­ten (wir be­rich­te­ten hier und hier). Die Aufmärsche wur­den von staat­licher Seite nur halb­herzig und erst nach natio­nalen und inter­natio­na­len Protesten zivil­gesell­schaft­li­cher Or­gani­satio­nen unter­bunden.

(Text: Zentralrat Deutscher Sinti und Roma)

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