Deutschland: Lehren aus dem NSU-Prozess

Juli 27th, 2018  |  Published in Rassismus & Menschenrechte, Recht & Gericht

Neonaziterror in Deutschland; Fahndungsfoto der Zwickauer ZelleKulturanthropologin Anna Lipphardt zum wei­te­ren ge­sell­schaft­li­chen Lern­pro­zess nach dem Urteils­spruch

Das Urteil im NSU-Prozess ist nach fünf Jahren gespro­chen wor­den: lebenslange Haft für Beate Zschäpe. Für Anna Lipp­hardt, Pro­fes­so­rin am Insti­tut für Kultur­anthro­po­lo­gie und Euro­päi­sche Ethno­logie der Uni­ver­si­tät Freiburg, ist es wich­tig, dass trotz des Urteils nicht nur die juris­ti­sche und politi­sche Auf­klä­rung der Taten und der Unter­stüt­zerin­nen und Un­ter­stützer des NSU fort­ge­führt wird. „Viel­mehr müs­sen wir die Aus­einan­der­setzung um den NSU-Pro­zess als lang­fris­ti­gen gesells­chaft­li­chen Lern­prozess be­grei­fen. Wir müs­sen den Um­gang staat­li­cher Be­hör­den, der Medien und der Ge­samt­gesell­schaft mit den Ver­brechen des NSU und seinen Opfern weiter kritisch hin­ter­fra­gen und ent­spre­chen­de Ver­änderun­gen ein­leiten“, for­dert Lipphardt.

In Zukunft gelte es besonders, sich für trans­parente und ver­läss­li­che Rege­lun­gen zur Akten­einsicht ein­zu­set­zen. „So­bald wie mög­lich müs­sen klare Zu­ständig­kei­ten und Ab­läufe etabliert wer­den, die den Akten­­zugang für Wis­sen­schaft­lerin­nen und Wissen­schaft­ler, Jour­nalis­tin­nen und Jour­nalis­ten sowie Ak­teu­rin­nen und Ak­teure zivil­gesell­schaft­li­cher Initia­ti­ven re­geln, die sich um die wei­tere Auf­klä­rung des NSU-Komple­xes be­mü­hen.“ Dies ist un­ter ande­rem für die Auf­ar­bei­tung der Fehl­ermitt­lun­gen zum Mord an Michèle Kiesewetter in Heil­bronn von Be­deu­tung. Dort rich­te­te sich der Verdacht zu­nächst zwei Jah­re lang auf Sinti und Roma, wäh­rend die eigent­li­chen Täter – der NSU und seine Unter­stützer – un­be­hel­ligt blie­ben. „Ob­wohl die bei­den Opfer in Heilbronn Staats­diener und An­ge­hö­rige der Mehr­heits­bevöl­ke­rung waren, kamen auch hier dis­krimi­nie­rende grup­pen­bezo­gene Er­mitt­lungs­ansätze zum Tra­gen. Diese sind bis­her noch nicht im vol­len Umfang auf­ge­arbei­tet wor­den – was aber für ein kon­struk­tives Ver­hält­nis zwi­schen der Minder­heit der Sinti und Roma und staat­li­chen Be­hör­den drin­gend nötig ist“, so Lipphardt.

Gleichzeitig gehe es darum, dass bestehen­des Wissen ge­teilt und die über­grei­fende kriti­sche Auf­klärungs­arbeit zum NSU-Komplex nicht aus­ge­bremst werde. Dafür gelte es nicht nur, sich auf die un­ter­­schied­li­chen Zu­gänge, Kom­muni­kations­kultu­ren und Praxis­logi­ken ein­zu­lassen. Es werde auch nötig sein, aus­rei­chen­de Res­sour­cen da­für auf­zu­tun. Aus dem NSU-Komplex kön­ne zudem für die Zu­kunft ge­lernt wer­den. „Nach dem Ende des NSU-Pro­zes­ses und der Unter­suchungs­aus­schüsse ist es wich­tig, den Blick zu weiten und zu fra­gen: Für welche rechts­poli­ti­schen Pro­jekte wur­den die Ver­bre­chen des NSU seiner­zeit ver­ein­nahmt? Welche selbst­kri­ti­schen Lehren ha­ben Polizei- und Jus­tiz­be­hör­den aus der bis­heri­gen Auf­arbeitung der vor­urteils­gepräg­ten Ermittlungs­logi­ken und -prak­ti­ken ge­zo­gen? Was lernen wir daraus für ak­tuelle und künf­tige rechts­politi­sche Pro­jekte, die insti­tu­tio­nelle Weiter­ent­wicklung oder das Zu­sam­men­spiel von Er­mitt­lungs­behör­den und Medien?“

Darüber hinaus gelte es, institutionel­len Rassis­mus zu er­kennen, ihn zu be­nennen und zu be­kämpfen. Es sei die grund­legen­de Pflicht des Staates, sei­ner Ver­treter und Insti­tu­tio­nen, konstruk­tiv mit Kritik um­zu­ge­hen und im Sinne von Arti­kel 3 des Grund­gesetzes dafür zu sor­gen, dass Struk­tu­ren und Arbeits­wei­sen in Polizei- und Justiz­wesen ste­tig weiter­ent­wickelt und ver­bes­sert werden, um sicher­zu­stel­len, dass „nie­mand we­gen seines Ge­schlech­tes, seiner Ab­stam­mung, sei­ner Rasse, seiner Sprache, seiner Hei­mat und Herkunft, sei­nes Glaubens, sei­ner religiö­sen oder poli­ti­schen An­schau­ungen be­nach­tei­ligt oder bevor­zugt“ werde.

Anna Lipphardt ist seit 2011 Professorin am Insti­tut für Kultur­anthro­po­lo­gie und Euro­päi­sche Ethnolo­gie der Albert-Lud­wigs-Uni­ver­si­tät Freiburg. Zu ihren For­schungs­schwer­punk­ten zählen unter an­de­rem Migra­tions- und Mo­bi­li­täts-For­schung, Poli­ti­sche Anthropologie und Kri­ti­sche Sicher­heits­forschung. Sie ar­beitet momen­tan an einer Studie zum so ge­nann­ten „Heilbronner Phantom“ und den Fehl­ermitt­lun­gen im Mord­fall Michèle Kiesewetter.

Siehe auch:
Racial Profiling & erweiterte DNA-Analysen
, 27.3.2018
Deutschland: Stand Mordserie an Roma bevor?,
5.5.2017
Polizeiversagen: „Spur ins Zigeunermilieu“, 13.4.2012

(Text: Zentralrat)

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