„Tatort“: Offener Brief der Bettellobbies

Januar 2nd, 2017  |  Published in Radio, Podcast & TV, Rassismus & Menschenrechte  |  2 Comments

Bettlermafia? Rassismusvorwürfe gegen neue Tatort-Folge (Filmstill, Bildergalerie www.daserste.de)Nach „Armer Nanosh“ (1989) und „Brandmal“ (2008) (mehr hier) hat die „Tat­ort“-Se­rie nun einen neuen An­ti­zi­ga­nis­mus­skan­dal. Of­fe­ner Brief der ös­ter­rei­chi­schen Bet­tel­lob­bies an die Re­dak­tion des BR zum Tat­ort „Klin­ge­lin­ge­ling“ vom 26. 12. 2016 (ARD):

Wir verurteilen die Diffa­mie­rung von bet­teln­den Men­schen!

Sehr geehrte Frau Heckner, sehr geehrte Frau Golch, sehr ge­ehr­ter Herr Mühl­fell­ner,

AktivistInnen der Bettellobbies Österreich haben am 26.12.2016 wie fast sie­ben Mil­lio­nen wei­te­re Zu­schau­er den Tat­ort „Klingelingeling“ ge­se­hen. Wir be­schäf­ti­gen uns seit vie­len Jah­ren mit dem The­ma Betteln in Ös­ter­reich und ste­hen in di­rek­tem Kon­takt zu vie­len Bett­lerInnen. Wir unter­stützen bet­teln­de Men­schen in recht­li­chen Be­lan­gen, konkret be­ein­spru­chen wir di­ver­se Straf­ver­fü­gun­gen (All­ge­mein­ver­fü­gun­gen) mit sehr gu­ten Er­fol­gen, schrei­ben zum Teil die so­ge­nann­ten Bet­tel­schil­der, be­glei­ten die Men­schen als Ver­trau­ens­per­so­nen zur Poli­zei oder zum Gericht und decken Be­hör­den­will­kür auf. Außer­dem sam­meln wir In­for­ma­tio­nen über die Situa­tion der Bett­lerIn­nen, be­rei­ten die­se auf und geben sie in Work­shops und Vor­trä­gen wie­ter. UND wir kämpfen ge­gen Vor­ur­teile, fal­sche Medien­berichte und rassis­ti­sche Hetze. Letz­te­res ver­an­lasst uns dazu, uns in einem of­fe­nen Brief an Sie zu wenden.

Im Tatort vom 26.12.2016 wird ge­schätzt 20 mal das Wort „Bettelmafia“ ver­wendet. Auch die ge­sam­te Dar­stel­lung lässt kei­nen Zweifel daran, dass eine sol­che exis­tiert bzw. legt nahe, dass zu­min­dest ein Groß­teil der Per­so­nen, die dem Betteln nach­gehen, dies nicht aus frei­en Stücken tun und über Er­bettel­tes auch nicht per­sön­lich ver­fü­gen dürfen.

Diese Darstellung entspricht jedoch nicht der Reali­tät. Es exis­tiert kein ein­zi­ger Fall mit gericht­li­chem Ur­teil, in dem mafiöse Struk­tu­ren durch so­ge­nann­te Hinter­männer nach­ge­wie­sen wur­den. Dem ent­gegen gibt es bereits in drei öster­rei­chi­schen Bundes­län­dern wis­sen­schaft­li­che Pub­li­ka­tio­nen (mehr hier, hier, hier und hier), in denen die Situa­tion die­ser Men­schen be­schrie­ben und dar­gestellt wird. Die Bettel­lobbies ha­ben in den letz­ten Jahren zahl­reiche Bett­lerIn­nen in ihren Unter­künf­ten be­sucht und fest­ge­stellt, dass die Wohn­situa­tion durch­aus pre­kär ist, je­doch keiner­lei Ähn­lich­keit zu den ,Käfigen‘ im Film be­steht.

Der mediale Diskurs ist geprägt durch viele un­be­wie­se­ne Be­haup­tun­gen und schlecht re­cher­chier­te Be­richte. Nun kommt ein Krimi da­zu – pro­du­ziert von einem öf­fent­lich-recht­lichen Sender, der „… den ver­fas­sungs­recht­lich vor­ge­ge­be­nen Auf­trag (hat), einen Bei­trag zur indi­vi­duel­len und öf­fent­li­chen Mei­nungs­bil­dung zu leis­ten und so zu einem funk­tio­nie­ren­den demo­kra­ti­schen Ge­mein­wesen bei­zu­tragen“. Der Tat­ort vom 26.12. trägt nicht zur in­di­vi­duel­len Mei­nungs­bil­dung bei. Nicht nur er­schafft er eine omi­nö­se Bettelmafia und legi­ti­miert das Bestra­fen von Betteln, er gibt auch noch Hand­lungs­an­wei­sun­gen an seine Zu­schauerIn­nen. Udo Wachtveitl gibt in sei­ner Rol­le den Hin­weis: „Das Beste ist, den Bett­lerIn­nen kein Geld zu ge­ben!“

Zudem produziert der Tatort neue Vorurteile. Den BettlerIn­nen wür­den Drogen ver­ab­reicht. Dies ist ein Um­stand, von dem wir, die im per­sön­li­chen Kon­takt mit einem Groß­teil der hier betteln­den Per­so­nen sind, noch nie etwas ge­hört ha­ben. Rassismus wird darüber hinaus ge­för­dert, in­dem die ‘bösen or­ga­ni­sier­ten rumä­ni­schen Bett­lerIn­nen’ den ‘netten ein­hei­mi­schen Ob­dach­losen’ ent­gegen­ge­stellt werden.

Grundsätzlich ist nichts Falsches daran, einen Krimi zu solch einem sen­sib­len Thema zu pro­du­zie­ren, doch es wäre an­ge­bracht, dann auch sen­si­bel mit der The­ma­tik um­zu­gehen. Nicht nur trägt eine derart ver­ein­fach­te, popu­lis­ti­sche Dar­stel­lung nicht zu einem funktio­nie­ren­den de­mo­kra­ti­schen Ge­mein­we­sen bei. Viel­mehr un­ter­stützt sie ge­fähr­li­che Ent­wick­lun­gen – zum Bei­spiel, dass Bett­lerIn­nen von Pas­santIn­nen ver­mehrt ver­bal, aber auch phy­sisch an­gegrif­fen wer­den (siehe z.B. hier und hier).

Wünschenswert wäre, Sie hätten im Vorfeld der Pro­duk­tion Kon­takt zu BettlerIn­nen auf­ge­nom­men und Vor­ur­teile an der Re­ali­tät über­prüft. Falls Sie daran noch In­teres­se ha­ben, ste­hen wir Ihnen ger­ne als Ver­mitt­lerInnen zur Ver­fü­gung und freuen uns über eine Kon­takt­auf­nahme.

Des Weiteren wünschen wir uns eine Klar­stel­lung, wobei es sich um er­wie­se­ne Tat­sa­chen und wo­bei es sich um Fik­tion han­delt. Dies könn­te zum Beispiel über eine gründ­lich re­cher­chier­te Doku­men­ta­tion ge­sche­hen, die vor oder nach der nächs­ten Tat­ort-Aus­strah­lung ge­sen­det wird. Darin soll­ten auch BettlerIn­nen selbst zu Wort kom­men. Eine ähn­li­che Reich­weite wie die sieben Mil­lio­nen Zu­schau­erIn­nen vom 26.12. wäre wün­schens­wert.

Dieser offene Brief ergeht an sämtliche Presse­stel­len wie auch als Be­schwer­de an den Presserat.

Mit freundlichen Grüßen,

die Bettellobbies Oberösterreich, Graz, Salzburg, Wien, Vorarlberg und Tirol, 28.12.2016

(Text: Offener Brief der Bettellobbies)

Responses

  1. dROMa-Blog | Weblog zu Roma-Themen | says:

    Januar 2nd, 2017 at 17:09 (#)

    [...] „Tatort“: Offener Brief der Bettellobbies [...]

  2. Wir verurteilen die Diffa­mie­rung von bet­teln­den Men­schen! :: Aktion Bleiberecht says:

    Januar 6th, 2017 at 18:35 (#)

    [...] dROMA | „Im Tatort vom 26.12.2016 wird ge­schätzt 20 mal das Wort „Bettelmafia“ ver­wendet. Auch die ge­sam­te Dar­stel­lung lässt kei­nen Zweifel daran, dass eine sol­che exis­tiert bzw. legt nahe, dass zu­min­dest ein Groß­teil der Per­so­nen, die dem Betteln nach­gehen, dies nicht aus frei­en Stücken tun und über Er­bettel­tes auch nicht per­sön­lich ver­fü­gen dürfen.“ „Rassismus wird darüber hinaus ge­för­dert, in­dem die ‘bösen or­ga­ni­sier­ten rumä­ni­schen Bett­lerIn­nen’ den ‘netten ein­hei­mi­schen Ob­dach­losen’ ent­gegen­ge­stellt werden.“ Offener Brief. Categories Themen Kommentare sind abgeschaltet! « Racial Profiling – Wie ist es gesetzlich geregelt? Mögliche Sammelabschiebungen [...]