„Es ist ein großer Rückschritt“
April 27th, 2014 | Published in Politik, Rassismus & Menschenrechte
„Stärkste Form von Repression seit Verfolgung durch Pro Juventute“
Der Historiker Bernhard Schär über das Vorgehen gegen Jenische in Bern
In der Schweiz gibt es, vor allem in den Sommermonaten, 3.000 bis 5.000 Fahrende, in erster Linie Jenische. Die Radgenossenschaft schätzt die Zahl der Jenischen in der Schweiz auf rund 35.000 – die meisten von ihnen leben heute sesshaft. Schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts versuchten die Schweizer Behörden, die Jenischen zur Sesshaftigkeit zu zwingen. 1923 begann die Jahrzehnte andauernde Verfolgung durch die Organisation „Pro Juventute“, welche Jenischen die Kinder wegnahm. Erst in den 70er Jahren gelangte diese Praxis an die Öffentlichkeit. Das gesellschaftliche Bewusstsein für das Unrecht, das der als „Zigeuner“ verfolgten Minderheit (die mit den Roma und Sinti im ethnischen Sinn jedoch nicht verwandt sind) zugefügt wurde, wuchs: 1986 entschuldigte sich etwa Bundesrat Alphons Egli für ihre Verfolgung. 1998 wurden die Jenischen in der Schweiz als eigene Minderheit anerkannt. Dennoch bleiben sie bis heute Anfeindungen ausgesetzt. Viele Schweizer Gemeinden und Kantone kommen ihrer Verpflichtung, für geeignete Stellplätze zu sorgen, nur sehr ungenügend nach. Konflikte um dringend benötigte Halteplätze sind die Folge. Ein Protestcamp von Jenischen in Bern, die eine Lösung des von der Politik über Jahre verschleppten Problems einforderten, wurde nun von der Polizei geräumt. Dabei kam es zu einem erniedrigenden Vorgehen gegenüber den jenischen Familien (hier eine Protestpetition).
Der Schweizer Historiker Bernhard Schär, Mitherausgeber des eben erschienenen Sammelbands „Antiziganismus in der Schweiz und in Europa“, hält die Auflösung des Protests der Jenischen auf der Kleinen Allmend in Bern für einen großen Rückschritt. Es handle sich möglicherweise um einen Einschnitt von historischer Tragweite. Der „Tagesanzeiger“ hat ihn zu seiner Einschätzung der Vorfälle befragt; im Folgenden einige Auszüge:
Ich hoffe, dass es keine Zäsur ist. Grob gesehen gibt es zwei Phasen in der Geschichte der Jenischen. Die Verfolgung der Minderheiten von 1850 bis zur Beendung des Hilfswerks Kinder der Landstrasse von Pro Juventute 1973. Dann kommt die Phase der Emanzipation der Jenischen respektive der Anerkennung ihrer Rechte durch die Behörden. Ich hoffe, dass die Ereignisse vom Donnerstag nicht das Ende der emanzipatorischen Phase sind. Es ist die vermutlich stärkste Form von Repression seit dem Ende der Verfolgung durch Pro Juventute. (…)
Es ist ein grosser Rückschritt, eingebettet in einen generellen Wandel seit den 2000er-Jahren. Die Jenischen sind eine der vielfältigen Gruppen, die lange als Zigeuner in der Schweiz und in Europa verfolgt wurden. Man muss das Ereignis im Kontext der Wegweisungen von Roma in Frankreich und Italien sowie den pogromartigen Verfolgungen in osteuropäischen Ländern sowie Roma-Bettelverboten in der Schweiz sehen. Das Ereignis ist ein Teil einer neuen Repression gegenüber Minderheiten.
(…) Die Personen, die auf der Kleinen Allmend waren, sind eine jüngere Generation. Sie scheinen das Trauma ihrer Vorfahren abgeschüttelt zu haben. Diese Leute sind sehr gut organisiert und gut ausgebildet. 120 Familien aus der ganzen Schweiz zusammenzutrommeln, eine klare Aktions- und Kommunikationsstrategie aufzustellen, ist nicht einfach.
(dROMa-Red)